Im Jahr 2025 fand ein Pilotprojekt des Geschäftsbereichs Personenbahnhöfe der DB InfraGO AG statt. 30 Auszubildende aus der Region Süd setzten sich mit der Geschichte des Bahnhofs Würzburg zur Zeit des Nationalsozialismus auseinander. Sie verbrachten drei Tage im DB Museum Nürnberg und nahmen an Führungen und Workshops teil. Hier teilen sie ihre Ergebnisse und Erkenntnisse.
3. Deportation am 25.04.1942 am Güterbahnhof Aumühle
Der nachfolgende Text wurde von den Auszubildenden erarbeitet:
Im Rahmen unserer Gruppenarbeit haben wir uns mit der Deportation jüdischer Menschen aus Würzburg und Unterfranken während der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt – ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte, das auch mit dem Hauptbahnhof Würzburg verknüpft ist. Dabei betrachteten wir das Thema aus drei Perspektiven: der einer verfolgten Person, einer mitwissenden Person und einer Person, die am Bahnhof arbeitete. Im Mittelpunkt standen die Erfahrungen, Ängste und das Leid der deportierten Jüdinnen und Juden sowie die Frage, wie und warum so viele Menschen Teil dieses Systems wurden – sei es durch aktives Handeln, stilles Mitwissen oder pflichtbewusstes Ausführen von Befehlen.
Unsere Recherchen führten uns tief in die Geschichte der Bahn, der Stadt Würzburg und ihrer jüdischen Gemeinde. Wir haben untersucht, wie die nationalsozialistische Ideologie schrittweise in Behörden und Betriebe wie die Reichsbahn eindrang – und wie dies sich auf das Schicksal Tausender Menschen auswirkte. Die NS-Verfolgung gipfelte in der systematischen Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden – ein Verbrechen, das von zahlreichen Institutionen getragen und umgesetzt wurde: von der Gestapo über die SS bis hin zur Deutschen Reichsbahn und zu lokalen Behörden. Dabei wurde deutlich, dass die Deportationen keine abstrakten historischen Ereignisse waren, sondern konkrete, grausame Einschnitte im Leben vieler Menschen – und dass sie von vielen Akteur:innen möglich gemacht oder still hingenommen wurden.
Für uns stellt sich heute die Frage:
Was können wir tun, damit sich so etwas nie wiederholt?
Die Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit ist ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur – und zur Verantwortung, die wir alle tragen.
Die Deportation von Herbert Mai
Herbert Mai wurde am 29.08.1929 in Würzburg in eine jüdische Familie geboren. Die jüdische Gemeinde in Würzburg hat eine lange Geschichte: Bereits um 1100 wurde hier eine der ersten Gemeinden Deutschlands gegründet. Doch bereits in den 1920er-Jahren bildeten sich antisemitische Bewegungen, die Jüd:innen u.a. für die Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich machten.
Herbert Mai war erst zwölf Jahre alt, als er am 27.11.1941 gemeinsam mit seinen Eltern und rund 200 weiteren Menschen aus Würzburg deportiert wurde. Die Deutsche Reichsbahn stellte die Züge bereit. In einem Umfeld geprägt von Angst, Ungewissheit und unmenschlicher Behandlung begann für Herbert ein Leidensweg, wie ihn viele Opfer des Holocaust durchleben mussten. Ziel des Deportationszuges aus Würzburg war ein Außenlager des Ghettos in Riga, später wurde er weiter in das Ghetto Riga verschleppt. 1943 musste er erleben, wie seine Eltern von Riga nach Auschwitz deportiert wurden. Er selbst leistete in Riga und an verschiedenen weiteren Stellen Zwangsarbeit.
Die Deportationen aus Würzburg und Unterfranken fanden zwischen November 1941 und Dezember 1944 an insgesamt acht Terminen statt. Von den 2.069 jüdischen Menschen, die aus Würzburg und Unterfranken deportiert wurden, überlebten nur 63.
Einer von ihnen war Herbert Mai. Er überlebte die Lagerhaft und Zwangsarbeit sowie den Todesmarsch gegen Ende des Krieges. Nach seiner Befreiung ging er in die USA. Immer wieder berichtete er über seine Erlebnisse, um zu erinnern – und zu mahnen, unter anderem als Zeitzeuge für das DB Museum.
YouTube: Video mit Herbert Mai: The Deportation of the Jews of Würzburg to the East
Unsere Gruppenarbeit hat uns deutlich gemacht: Es ist unsere Verantwortung, aus der Geschichte zu lernen. Diskriminierung, Ausgrenzung und Hass dürfen in unserer Gesellschaft keinen Platz mehr haben. Durch Bildung, Erinnerung und Aufklärung möchten wir dazu beitragen, dass sich ein solches Unrecht nie wiederholt – gegenüber Jüdinnen und Juden ebenso wie gegenüber allen Menschen, die heute aufgrund ihrer Herkunft, Religion oder Identität bedroht werden.
Spurensuche zur Rolle der Reichsbahn im Nationalsozialismus
Im Mittelpunkt unserer Recherche stand Ludwig Maier, Reichsbahnoberinspektor in Würzburg und ein Vertreter jener Personen, die durch bürokratische Pflichterfüllung Teil der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie wurden.
Maier war verantwortlich für die Organisation der Würzburger Deportationszüge. Ein zentraler Schritt auf dem Weg in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Die organisatorische Maschinerie umfasste verschiedene Hierarchieebenen – von hochrangigen Ministerialbeamt:innen bis hin zu lokalen Akteur:innen wie Ludwig Maier. Die Mehrzahl der Deportationszüge ging zwar vom Güterbahnhof in der Aumühle ab, doch die Organisation erfolgte offenbar hauptsächlich über Mitarbeitende des Hauptbahnhofs wie Ludwig Maier, der direkt mit der SS verhandelte.
Die SS konnte sich auf die Zusammenarbeit mit der Reichsbahn verlassen. Pflichterfüllung und bürokratische Routine bestimmten das Handeln vieler Beamter. Anweisungen des Reichsverkehrsministeriums wurden ohne Widerspruch umgesetzt, die Gestapo und das Reichssicherheitshauptamt waren die Auftraggeber bei den Deportationen. Die Reichsbahn stellte die benötigten Ressourcen bereit, erstellte Fahrpläne und organisierte die Lokomotiven und Waggons – Menschen wurden zu „Transportgut“ gemacht. Teil dieses bürokratischen Verfahrens, war auch die Erhebung eines Fahrpreises.
Es existieren Dokumente aus der die genaue Planung der Transporte hervorgeht.
Für die Deportierten bedeutete dieser Verwaltungsakt den Weg in die Hölle: in Konzentrations- und Vernichtungslager, wo viele von ihnen unter unmenschlichen Bedingungen litten und starben – durch Hunger, Krankheiten, Misshandlungen oder die Gaskammern.
Nach dem Ende der NS-Herrschaft wurden viele Mitwirkende der Reichsbahn im Zuge der Entnazifizierung vor Gericht gestellt. Es kam zu Prozessen und – in einigen Fällen – zu Verurteilungen. Dennoch blieb ein Großteil der Verantwortungsträger bei der Reichsbahn unbehelligt und kehrte später in ihre Ämter zurück. Ludwig Maier verstarb im Jahr 1945, noch bevor es zu einer Anhörung kam.
Aus unserer Gruppenarbeit nehmen wir eine zentrale Erkenntnis mit: Die Vergangenheit mahnt uns zur Verantwortung. Es ist unsere Aufgabe, die Erinnerung wachzuhalten, die Menschenrechte zu achten und wachsam gegenüber jeder Form von Diskriminierung und Ausgrenzung zu sein. Der Würzburger Hauptbahnhof steht nicht nur für Mobilität – er ist auch ein Ort des Gedenkens und der historischen Verantwortung.
Erinnern an die Deportationen
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 begann die massive Ausgrenzung, Gewalt und Entrechtung von Juden: Vom Boykott jüdischer Geschäfte über die Zerstörung von Synagogen im Novemberpogrom 1938 bis hin zur Kennzeichnungspflicht mit dem gelben Stern und der Zwangsräumung aus Wohnungen – Schritt für Schritt wurden jüdische Menschen aus der Gesellschaft ausgeschlossen, entrechtet und schließlich deportiert.
Die Reichsbahn war eine entscheidende Akteurin in diesem System. Ohne ihre logistische und technische Unterstützung wären die Deportationen nicht möglich gewesen. Vom Planen der Transporte, über die Bereitstellung der Züge, bis hin zur Durchführung der Fahrten – an fast jedem Abschnitt waren Eisenbahner:innen beteiligt. Die Lokführer:innen und Heizer:innen der Deportationszüge sahen, wie Menschen in Züge gedrängt wurden, hörten ihre Hilferufe und wussten, dass es sich nicht um gewöhnliche Reisende handelte.
Die Reichsbahnbeamten unterlagen der Gleichschaltung: Die Bahn wurde vollständig in das NS-System integriert. Politische Gegner:innen, Jüd:innen und andere als „unerwünscht“ eingestufte Mitarbeitende wurden entlassen oder strafversetzt. Gleichzeitig bot das System vielen nichtjüdischen Mitläufer:innen Karrierechancen und Sicherheit. Einige Beamte unterstützten aktiv die nationalsozialistische Ideologie – andere wiederum lehnten sie ab, ohne sich offen zu widersetzen. Nur wenige halfen Verfolgten oder leisteten Widerstand. Wer dies tat, riskierte Berufsverbot, Haft oder sogar den Tod.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden Reichsbahnmitarbeiter:innen im Rahmen des Befreiungsgesetzes überprüft. Die meisten wurden als „Mitläufer“ oder „Entlastete“ eingestuft – eine strafrechtliche Verfolgung blieb oft aus. Viele kehrten zurück in den Dienst, da die Bahn für den Wiederaufbau Deutschlands unverzichtbar war.
Unsere Gruppenarbeit hat uns gezeigt, wie schnell eine Gesellschaft in ein System aus Diskriminierung, Gewalt und Mord abrutschen kann, wenn Menschen nicht widersprechen. Uns wurde deutlich, dass viele Menschen wussten, was geschah, und dennoch mitmachten oder schwiegen. Umso wichtiger ist es heute, wachsam zu bleiben: Ausgrenzung beginnt oft im Kleinen.
Wir haben gelernt, wie wichtig Aufklärung, Erinnerung und Zivilcourage sind. Die Verbrechen der NS-Zeit dürfen nie vergessen werden – damit sich die Geschichte nicht wiederholt. Auch an Orten wie dem Hauptbahnhof Würzburg, ist heute Raum für Erinnerung und Verantwortung.